Architekturkritik 03:

Das klassische Erstlingswerk

Ein Eigenheim für die Eltern, noch während dem Studium entworfen, massgeschneidert für deren aktuellen Lebensabschnitt und doch überraschend zukunftsfähig. Ein Beispiel massvoller Verdichtung in Uster, der drittgrössten Stadt im Kanton Zürich und wichtiger Teil der werdenden Glatttalstadt.

Blick von Süden, Richtung Seestrasse (© Moritz Holenstein, 2013)

14 Minuten nur dauert die Fahrt mit der S-Bahn vom Zürcher Hauptbahnhof nach Uster. Vom Bahnhof führt eine verkehrsberuhigte Einkaufsmeile nach Süden zur Seestrasse. Zur Rechten breitet sich eine rege genutzte Parklandschaft entlang dem Aabach aus, gesäumt mit gut erhaltenen Baumwollspinnereien aus dem späten 18. Jahrhundert. Dieser frühen Industrie ist es zu verdanken, dass es hier an zentraler Lage solch grosse, zusammenhängende Freiräume gibt, denn die hergestellten Stoffe mussten in den Weihern gewässert und zum Trocknen auf den Wiesen davor ausgebreitet werden. In jüngster Vergangenheit wurde in grossem Massstab eng an dieses wohl einzigartige Ensemble gebaut, zuletzt 135 neue Wohnungen von Gigon / Guyer Architekten auf dem Zellweger Areal.

Verdichtet wird aber auch im Einfamilienhausquartier links der Seestrasse. Knapp 15 Gehminuten vom Bahnhof entfernt, auf einer kleinen Anhöhe auf halbem Weg zum Greifensee, wohnen Karin und Sigi Holenstein in einem kompakten Neubau. Nach dem Wegzug ihrer beiden Kinder suchten sie eine Möglichkeit, ein Eigenheim für ihren neuen Lebensabschnitt zu erstellen. Im Jahr 2009 kauften sie das Grundstück an der Seeblickstrasse, auf dem ein als Abbruchobjekt deklarierter Altbau stand. Ihr Sohn Moritz (Jahrgang 1985) machte sich noch während dem Architekturstudium an der Fachhochschule Winterthur an die Entwurfsarbeit. Schnell wurde klar dass das bestehende Haus sehr gut auf der Parzelle stand und eigentlich erhaltenswert war. Mit den 50'000 Franken, die ein Abbruch gekostet hätte, sanierte die Familie das Haus mehrheitlich eigenhändig. Wenige Meter daneben wurde dann von März bis Dezember 2012 unter der Leitung von Moritz Holenstein das neue Haus erstellt.

Übersichtskarte - (A) Bahnhof Uster; (B) Zellweger Areal; (C) Haus Holenstein
(Plangrundlage: maps.zh.ch, 2014)

Zwei Vollgeschosse und eine teilüberdeckte Dachterrasse bilden das schmale Volumen, deutlich höher als breit, das fast vier Meter näher an der Strasse steht als der Altbau. Mit seiner matt reflektierenden Blechhaut und den fassadenbündigen Fensterflächen, dem verführerisch durchblitzenden hellen Holz und den segelähnlich aufgespannten Sonnenstoren wirkt das Haus wie ein Schiff, das demnächst in See stechen wird. Obwohl diese Materialisierung einen deutlichen Kontrast zu den quartierüblichen Putzfassaden bildet, passt sich das Haus durch seine klare Formsprache und die geringe, der Körnung des Quartiers entsprechenden Grösse sehr gut in seine Umgebung ein. Einen Eingang sucht man jedoch zunächst vergebens. Von der Seestrasse kommend bleibt die seitlich angeordnete Garage lange unbemerkt, doch hier befindet sich auch der überdeckte Hauseingang. Im Inneren wird schnell klar, dass Moritz Holenstein die ihm anvertraute Aufgabe pragmatisch und mit viel Respekt für den Kontext gemeistert hat. Wie das alte Haus von 1946 ist auch das neue ein Holzbau auf massivem Sockel. Die Fassade aus Kupfertitanzink erklärt sich durch den geringen Gebäudeabstand und der daraus resultierenden Brandschutzvorschrift, mindestens zwei Seiten nichtbrennbar zu gestalten.

„Am Anfang stand der Laienwunsch meiner Mutter nach mehr Fenster“, erzählt der Architekt im Erdgeschoss, wo sich auf gut 70m2  Eingangsbereich, Esszimmer, Küche, und Wohnzimmer um einen Sichtbetonkern anordnen, und der offene Grundriss für von drei Seiten einfallendes Tageslicht sorgt. So entstehen spannende Sichtbezüge zwischen den hellen Innenräumen und der Umgebung, was das Ganze sehr grosszügig wirken lässt. Auch der halbe Meter Höhenunterschied des zur Strasse hin leicht abfallenden Geländes wird im Wohnzimmer gekonnt ausgenutzt um dessen geringe Fläche von nur 18m2 zu kompensieren. Drei massgefertigte, bis auf einzelne Details wie die Birnenholzgriffe in einem eleganten Anthrazitgrau gehaltene Schreinerarbeiten strukturieren das Geschoss. Die als Sideboard konzipierte Marmorküche begleitet das Esszimmer auf seiner ganzen Länge. Ein Garderobenelement definiert den Eingangsbereich und beherbergt auf der Rückseite neben verschiedensten Büchern auch die Stereoanlage, während der schlichte Sekretär gleichzeitig einen hervorragend belichteten Arbeitsplatz im Wohnzimmer und den offenen Treppenraum organisiert. Der in seiner Grobheit skulpturale Betonkern beherbergt eine Toilette, die über ein geschickt angeordnetes Fenster mit erstaunlich viel Tageslicht versorgt wird. Ein weiterer Kniff offenbart sich erst beim Betrachten der Pläne: die Wand gegenüber dem Eingang kippt leicht aus dem Lot und wird erst so parallel zum alten Haus. Dadurch ergibt sich hinter der Treppe genügend Platz, um die Waschküche auch noch ebenerdig unterzubringen, als „Schmutzschleuse“ zwischen Küche und Garten.

Im Obergeschoss befindet sich neben dem Bad das einzige Schlafzimmer, sowie strassenseitig ein grosszügiger Atelierraum, beide mit Zugang zum Dach der als Werkstatt genutzten Garage. Wie es die verheissungsvolle Adresse Seeblickstrasse erahnen lässt befindet sich die Hauptattraktion aber noch weiter oben. Eine schmale Treppe führt auf die seeabgewandte Seite der Dachterrasse, wo ein holzgefeuertes skandinavisches Badefass auf schneereiche Winter hoffen lässt. Schützende Wände und das darüber liegende Gebälk umgeben den Bottich, und erzeugen inmitten der Nachbarhäuser ein Gefühl von Intimität. Links an der elegant in die Holzverkleidung integrierten Regenwalddusche vorbei, erreicht man über eine offene Kiesfläche den überdeckten Sitzplatz. Das Wechselspiel von raumbegrenzenden Wandscheiben und gerahmter Weitsicht über den Greifensee richtung Forch lädt zum Verweilen ein, während geschickt integrierter Stau- und Kühlraum dies logistisch unterstützt. Wiederum zur Linken vervollständigt eine nach Süden ausgerichtete Liegestuhlecke die bewundernswerte räumliche Vielfalt der Dachlandschaft.

Einmal abgesehen davon, dass das Einfamilienhaus nicht die zukunftsweisende Wohnform ist, verfügen auch nicht alle jungen ArchitektInnen über ein Umfeld, dass sich ein solches leisten kann. Allein die Garderobe im Haus Holenstein kostete etwa so viel wie ein vergleichbares Designstück von USM Haller. Sie ist aber massgeschneidert auf die spezifischen Bedürfnisse der Bewohner und leistet einen unbezahlbaren Beitrag zur Raum- und Lebensqualität. Auch erweist sich dieses höchst individuelle Haus bei näherer Betrachtung als erstaunlich anpassungsfähig. So kann das über einen abgegrabenen Lichthof zugängliche Musikzimmer mit eigenem Bad im Untergeschoss abgetrennt und vermietet werden, und die überdeckten Bereiche der Dachterrasse sind für einen erleichterten Ausbau konzipiert. Die hier von Moritz Holenstein an den Tag gelegte Leidenschaft fürs Handwerk und die Details, aber auch für den grösseren städtebaulichen und kulturellen Kontext, zeigt wie Baukunst und Spass an der Arbeit abseits vom Zeit- und Kostendruck der alltäglichen Wettbewerbs- und Investorenarchitektur entstehen können.

(Dieser Text ist im Rahmen des Anfangs 2014 von der Architekturzeitschrift «werk, bauen + wohnen» lancierten Wettbewerbs entstanden. Aus 39 eingereichten Arbeiten wurden durch eine siebenköpfige Jury 8 Kritiken einstimmig zur Publikation ausgewählt – diese gehörte nicht dazu.)